Emmy Noether (1882-1935)
"Die Algebra hat ein anderes Gesicht bekommen."

Wissenschaftliche und persönliche Kontakte nach Göttingen 1913/14

1913/1914 intensivierte Emmy Noether ihren wissenschaftlichen und persönlichen Kontakt nach Göttingen.

1913 war sie gemeinsam mit ihrem Vater für längere Zeit in Göttingen und verfasste in dieser Zeit gemeinsam mit Felix Klein einen Nachruf auf ihren Doktorvater Paul Gordan (Max Noether mit Unterstützung von Felix Klein und Emmy Noether, Paul Gordan (Nachruf), in: Mathematische Annalen 75 (1914), S. 1-14).

1914 korrespondendierte sie mit Hilbert von Erlangen aus wegen der Veröffentlichung einer  Arbeit in den Mathematischen Annalen, die Hilbert später als Habilitationsarbeit empfehlen sollte (Körper und Systeme rationaler Funktionen, Mathematische Annalen 76 (1915), S. 161-191; abgeschlossen im Mai 1914). Außerdem machte sie in einem späteren Brief – ohne dazu aufgefordert zu sein – ausführliche Anmerkungen zu einer wissenschaftlichen Note Hilberts, die dieser eigentlich ihrem Vater zugeschickt hatte, und kündigte eine weitere Arbeit für die Annalen an.

Am 4. Mai 1914 schrieb Emmy Noether an David Hilbert:
Sehr geehrter Herr Geheimrat!
Ich schicke Ihnen gleichzeitig eine Arbeit „Körper und Systeme rationaler Funktionen“ mit der Bitte um Aufnahme in die Annalen.
Über den Inhalt der Arbeit soll die Einleitung orientieren; einen Überblick über Fragestellungen und Resultate
habe ich auch in meinem Wiener Vortrag über "rationale Funktionenkörper" (Nov.-Dezemberheft des Jahrbr. der Math.ver. 1913) gegeben.
Die Arbeit knüpft an Kapitel I Ihrer Arbeit „über die vollen Invariantensysteme“ und an das Problem der „relativ ganzen Funktionen“, Problem 14 Ihrer mathematischen Probleme, an: Sonst finden sich noch Berührungspunkte mit der „algebraischen Theorie der Körper“ von E. Steinitz.
Ich habe versucht, die Frage der rationalen Darstellbarkeit der Funktionen eines abstrakt definierten Systems durch eine Basis (Rationalbasis) erschöpfend zu behandeln, und von da aus auch Angriffspunkte zur Behandlung des Endlichkeitsproblems zu gewinnen. Es haben sich so neue Endlichkeitssätze ergeben; bei Voraussetzungen anderer Art als die, die man bis jetzt beherrschen konnte. Allerdings ist mir die Behandlung der „relativ ganzen Funktionen“ nur für eine spezielle Klasse gelungen; hier kann ich dafür aber die Integritätsbasis abstrakt durch den Bereich definieren.
Die in dem Vortrag erwähnten Anwendungen auf die „Konstruktion von Gleichungen mit vorgeschriebener Gruppe“ habe ich fortgelassen, um sie für sich zu veröffentlichen; da sie doch wieder neue Begriffe erfordern.
Mit besten Empfehlungen
Ihre sehr ergebene
Emmy Noether

Ihr Brief vom 1. Dezember 1914 beginnt mit den folgenden Worten:
Sehr geehrter Herr Geheimrat!
Sie sprachen in der gestern meinem Vater zugesandten Note „über die Invarianten eines Systems von beliebig vielen Grundformen“ die Vermutung aus, daß diese Invarianten sich ganz und rational durch die endlich vielen Invarianten des Systems (J, PJ) darstellen lassen. Es interessiert Sie deshalb vielleicht, daß vermöge einer Mertschens Erweiterung der Clebsch-Gordanschen Reihenentwicklung* sich diese Vermtung tatsächlich leicht als zutreffend nachweisen läßt.
* Mertens: Über eine Formel der Determinantentheorie. Formel 5. Wiener Berichte. Math.-nat. Klasse B. 91 Abt. II (A885) - dieselbe Tatsache läßt sich auch aus der Capelli'schen Reihenentwicklung abstrahieren.

Es folgt die mathematische Ableitung der genannten Vermutung mit der Folgerung, daß „damit Ihre Vermutung bewiesen“ ist: Jede ganze rationale Invariante des Grundformensystems (F) von N Formen ist eine ganz rationale Funktion der endlich vielen Invarianten (J, PJ ). [Unterstreichung im Original].
Emmy Noether fährt fort:
Ich benutze die Gelegenheit, um ein in den nächsten Wochen zuzuschickendes Manuskript (etwa 10-12 Seiten) „über die allgemeinsten Bereiche aus ganzen transzendenten Zahlen“ anzumelden. Ich zeige darin, welche der Basiseigenschaften des Zermelo'schen Bereichs durch die spezielle Konstruktion bedingt, und welche Folgen der abstrakten Definition sind, um daraus die allgemeinste Konstruktion zu gewinnen. [Es folgt die mathematische Ausführung; Veröffentlichung in: Die allgemeinsten Bereiche aus ganzen transzendenten Zahlen, in: Mathematische Annalen 77 (1916), S. 103-128; abgeschlossen 30. März 1915;  Berichtigung in: Mathematische Annalen 81 (1920), S. 30.]

Beide Briefe in der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Hilbert 284, Bl. 1 und Bl. 2/1-2/2.